Gisela Happe

»Aus der Tiefe« - Gedanken zu den Bildern von Gisela Happe

Dass es um keine geologische Tiefe bei den Bildern Gisela Happes geht, ist unschwer zu erkennen. Vielmehr greifen ihre Bilder in eine emotionale, ja existenzielle Tiefe hinein, die als Betrachtende zwar unmittelbar zu erahnen und erspüren, niemals aber ganz zu ergründen sind. In einem Spannungsfeld von Licht und Dunkelheit, Werden und Vergehen, Leben und Tod greifen ihre Bilder menschliche Situationen auf, die sowohl existenzielle, als auch transzendente Bedeutung haben können. 

Vitus zeigt eine menschliche Gestalt in prekärer Lage, senkrecht tief versunken in einem schier undurchdringlich erscheinenden, engen Schwarz. Die angedeuteten Bandagen um seinen Leib erinnern an ein Leichentuch, das Gesicht, nur angedeutet und dunkel verschattet. Hier scheint jemand mit stummem Schrei ins dunkelste Loch zu fallen und zu versinken. Und doch entfaltet dieses Bild auch eine ungeheure Dynamik nach oben und hinaus aus dem Schwarzen ins Licht hinein - oder ins Licht zurück? Durch die nach oben gereckten Arme und die locker um den Körper gebundenen Bandagen, die auch ein Abfallen der Bandagen als Interpretation zulassen, erlaubt das Bild dem Betrachtenden nicht nur die Blickrichtung vom Licht ins Dunkel hinab, sondern ebenso eine dynamische Aufwärtsbewegung aus dem Schwarz hinaus in den hellen Bereich des Lebens zurück…

In dem mit Graphit gezeichneten Bild Große Pieta II dagegen scheint alles nur wie ein Hauch zu sein: ein Hauch liegender Mensch, ein Hauch weißer Block, auf dem dieser Mensch abgelegt wurde. Er spürt nichts mehr, denn sonst würde er sich freiwillig nicht so unbequem legen. Der Titel dieses Bildes stützt diese Sicht, denn Pieta heißt übersetzt „frommes Mitgefühl“ und bezieht sich auf die leidende Mutter Gottes, die den Leichnam ihres Sohnes auf ihrem Schoß hält, nachdem er vom Kreuz abgenommen wurde. Hat Gisela Happe hier die Mutter Gottes die Szene bereits verlassen lassen, oder wurde sie von ihr durch einen Block aus Stein ersetzt?

Lagerung lebt erneut von Kontrasten. Eine liegende Person ist in ihren Umrissen zu sehen. Der Lagerungsgrund ist braunschwarz und erdig, uneben und wirkt recht massiv. Es ist nicht so klar auszumachen, ob die Person gelegt wurde oder sich selber dort hingelegt hat. Der Körper passt sich ein wenig dem Untergrund an, dennoch liegt er teilweise auf Erhebungen. Bei genauer Betrachtung kann man noch eine gewisse Körperspannung erkennen, besonders in den ausgestreckten Beinen und den Armen, die um den Leib geschlungen erscheinen. Umarmt er sich selber, weil es kein Anderer tut, ist er in einer Schutzhaltung? Ruht der Mensch sich aus um danach selbständig wieder aufzustehen, oder ist ihm das gar nicht möglich?

Bei Pieta III, einer Arbeit, die aus zwei Schichten Pergamynpapier besteht, werden zwei Personen in ihren Umrissen dargestellt. Die sich im Hintergrund befindende Person hält die andere - wie üblich bei einer Pieta - auf ihren Schoß. Die haltende Person rückt durch das darüber gelegte Pergamyn in den Hintergrund, während die Gehaltene kraftlos hängend im Vordergrund zu erkennen ist. Auf diese Weise hat es den Anschein, als trete die haltende Person quasi hinter eine Art Vorhang zurück und böte die gehaltene, leblose  dem Betrachtenden dar. Ein helles Rot auf dem Körper der Gehaltenen erinnert an ein mit Blut und Wundwasser getränktes Tuch und somit an das Leben, das einst durch die Adern floss.

Menschen in verschiedenen Lebens-Lagen erkennt man in den Arbeiten „im Feld“, „Spalt“ und „dazwischen“. Bei der Betrachtung fragt man sich unweigerlich, wie die Personen wohl in diese Lagen gekommen sein könnten. Haben sie es dort bequem, oder befinden sie sich eher in einer Notlage? 

Wollen sie sich vielleicht verstecken, oder eher ausruhen und über irgendetwas in Ruhe und Abgeschiedenheit nachdenken? Oder müssen sie sich mühsam aus der Lage, in der wir sie erkennen, herausarbeiten und befreien? Die fehlende Eindeutigkeit lädt zum Verweilen und genaueren Hinschauen ein. Denn erst dann kann man auch winzige Details erkennen, die den Betrachtenden tiefer in die Werke einsteigen lassen.                                                          

März 2022  Sabine Brockhaus