»ERFURTER ZYKLUS« Katalogbeitrag von Christiane Vielhaber
„Kunst ist der Ausdruck tiefster Gedanken auf einfache Art." Albert Einstein
Gedanken zum »ERFURTER ZYKLUS« von Gisela Happe
Kunst entsteht nie voraussetzungslos! Bilder entstehen immer aus Bildern, sei es aus nur erinnerten, die etwas mit dem eigenen Leben zu tun haben, sei es aus geschauten, wie etwa jenen aus dem Fundus der Kunstgeschichte, die wir so oft reproduziert gesehen haben, dass sie sich unserem kollektiven Gedächtnis fest eingeprägt haben. Vor allem dann, wenn sie von Menschen handeln. Das schwarze Quadrat von Malewitsch mag als radikaler Meilenstein in die Kunstgeschichte eingegangen sein und als intellektuelle Herausforderung. Aber die Verlorenheit von dem einsamen Mönch am Meer, gemalt von Caspar David Friedrich, oder die lautlos schreiende, existenzielle Geworfenheit der menschlichen Kreatur in die leeren Raum-Käfige bei Francis Bacon, um nur zwei signifikante Beispiele zu nennen, das sind Bilder, die wir zeitlebens in uns und mit uns herumtragen, und die automatisch immer dann abgerufen werden, wenn wir uns mit ähnlichen Situationen konfrontiert sehen. Und das geht Künstlern bestimmt nicht anders. Denn selbst, wenn sie zu völlig anderen Stilmitteln greifen, um vergleichbare Befindlichkeiten auszudrücken, schieben sich, zumindest bei dem Betrachter, diese, im besten Sinne, „Vorbilder" automatisch dazwischen.
Es gibt aber auch Voraussetzungen, die man sich als Künstler selber schafft, die sich einem anbieten oder die sich geradezu aufdrängen. Das mag ein gefundenes Material sein, das mit seiner Griffigkeit oder Sprödigkeit zum Ausgangspunkt einer Komposition wird, oder das mit den deutlich sichtbaren Spuren des Gebrauchs auch im metaphorischen Sinn auf Spuren verweist, die das Leben in uns Menschen hinterlassen hat. Es mag manchmal auch nur eine vorgefundene Form sein, die dann als ein den Bildraum bildendes Gerüst dient, als Element im Raum oder als Zeichen für etwas. Das alles gilt für die Bildfindungen von Gisela Happe. Bemerkenswert ist zudem das Aufbringen von diaphanen Papierbahnen oder –streifen, die plötzlich den Bildraum staffeln und den Wesen, denn davon handeln schließlich die Bildwerke dieser Künstlerin, einen flächigen Halt geben oder, und das liegt im Auge des Betrachters, von ihnen eingesperrt werden. Diese Streifen können diese Figuren in arg verwickelte, beengte Situationen bringen oder sie sogar im eigentlich immer offen bleibenden, entgrenzten Geviert des Bildgeschehens völlig isolieren. Denn, dass da etwas geschieht, das ist unzweifelhaft!
Bevor ich auf das „Was" des Geschehens und seinen Bildort komme, möchte ich kurz auf das „Wie" seiner Entstehung eingehen. Auch wenn das Picasso-Zitat arg überstrapaziert wird - da ist was dran, gerade im Bezug auf die sprachlosen Bilderzählungen von Gisela Happe. „Ich suche nicht, ich finde", soll der von sich maßlos überzeugte Picasso einmal gesagt haben. Vielleicht sollte ich das in Bezug auf die Künstlerin so abändern: Sie sucht nicht im Baumarkt, sie entdeckt einfach im Bauschutt! Dass das Entdeckte dann zu einer Bildfindung führt, daran lässt sie, künstlerisch uneitel und den Geniebegriff selbstbewusst untergrabend, keinen Zweifel. Denn sie erweist sich, gerade was den »Erfurter Zyklus« betrifft, als ein, man möge mir diesen Ausdruck verzeihen, handwerkliches Trüffelschwein. Das ist in zweierlei Hinsicht zu verstehen. Denn es betrifft zum einen das Handwerk der Dachdecker und Gebäudetrockenleger, die mit modellierbaren Bleiplatten, mit Bitumenplacken, mit teerigen Anstrichfarben arbeiten, und zum andern das Handwerk einer Kunstmacherin, die sich dieser Materialien bedient, um daraus Bildwelten zu erschaffen, die es so noch nicht gegeben hat. Und ich füge hinzu, und die es sich und uns nicht immer leicht machen. Denn, das sei nicht verschwiegen, es gab im Werk dieser Künstlerin auch schon eingängigere Gemälde und raumgreifende Bildfindungen, die ihre Wurzeln in der der deutschen heftigen Malerei und wilden Figuration der 80er Jahre nicht verleugnen. Zwar ging es auch da um das uralte künstlerische Problem von Figur und Raum, und es gab darunter heftig gestikulierende und dann auch wieder nahezu blockhaft in sich geschlossene oder verschlossene Körper, aber die Palette und die Grundstimmung dieser Bilder waren dem damaligen Zeitgeist und dem Selbstverständnis der Künstlerin entsprechend, wesentlich anders.
Man kann nun nicht sagen, dass in diesem »Erfurter Zyklus« von all dem nichts mehr zu finden ist, denn diese hier als Werkgruppe aus dem vorangegangenen und nachfolgendem Schaffen der Künstlerin herausgelösten Bilder kommen natürlich auch wieder aus Bildern.
Der Begriff Zyklus bezeichnet ja nicht allein periodische Abläufe oder Systeme oder regelmäßig wiederkehrende Ereignisse. Man verwendet ihn auch für eine inhaltlich zusammengehörige, und, das scheint mir besonders wichtig, für eine in sich abgeschlossene Folge von Werken. Indem Gisela Happe diesen Zyklus für abgeschlossen erklärt hat, hat sie zugleich auch mit einem offenbar einschneidenden Kapitel ihres Lebens abgeschlossen. Sie hat das Erlebte nicht in Worte gekleidet, sondern sehr eindringlich sprechende Bilder dafür gefunden. Und, im Sinne von Albert Einstein, sehr einfache! Sie erzählen von der Erfahrung, die die Künstlerin in einem Kunstprojekt mit Schülern machen konnte, machen durfte oder auch machen musste. Die Schule, an der dieses Projekt durchgeführt wurde, ist benannt nach dem Weg, an dem sie sich befindet, nämlich an einem Erfurter Weg. Es ist eine Sonderschule für Erziehungshilfe. Dieser Zyklus ist aber nicht unmittelbar aus der oft aufreibenden Arbeit mit diesen Schülern hervorgegangen, sondern aus der nachträglichen künstlerischen Auseinandersetzung mit den ebenso physisch wie psychisch aufrührenden Erlebnissen. Ich erwähne das nur, um die gewiss berechtigte Frage nach dem Titel dieser Bilderfolge zu beantworten. Als Hinweis, wie wir als Betrachter diese Bilder zu lesen haben, ist das aber nicht zu verstehen. Dazu ist die Körpersprache dieser geschlechtslosen Wesen in den ihnen zugewiesenen Bildräumen zu zeichenhaft auf allgemein menschliche Seinszustände und seelische wie körperliche Befindlichkeiten reduziert.
Nicht alle werden sich gleichermaßen in diesen Bildern wiederfinden. Was der eine als ausweglos bedrückende Szenerie erlebt, mag für den anderen als eine Chiffre der Hoffnung erscheinen, und wo der eine sich über einen kopfschüttelnden Zappelphilipp amüsiert, sieht der andere wiederum einen verzweifelten Kampf in einer Zwickmühlensituation. Das liegt daran, dass wir die Dinge bekanntermaßen nicht so sehen, wie sie sind, sondern immer nur so, wie wir sind. Und, je nach Erfahrungshorizont, kommt dem einen der Satz in den Sinn, nach dem der Mensch so tief fallen kann, dass er zu fliegen meint, und dem andern die Erkenntnis des barocken Lyrikers und Arztes Johann Scheffler, der sich später als Theologe Angelus Silesius (Schlesischer Engel) nannte: „Die Welt, die hält Dich nicht. Du selber bist die Welt."
Und apropos Theologie! Bei nicht wenigen Bildern aus diesem Zyklus sehe ich deutliche Verbindungen zur christlichen Ikonografie. Da ist etwa das Motiv der Grablegung, und bei einem Bild spricht die Künstlerin sogar selbst von „Lagerung". Wobei dieser Körper dann doch noch sehr lebendig wirkt und er weich aufgefangen scheint in einem dunklen Bett, gestaltet aus gerissener Dachpappe. Wesentlich festgefahrener scheint mir da schon die Situation eines Körpers mit fast tierhaft angewinkelten Unterschenkeln, der von der Last der Grabplatte nahezu qualvoll erdrückt wird. Sie besteht aus einem Zinkblech, dessen gesprenkelte Gebrauchspatina anmutet wie eine abstrakte, informelle Malerei aus Erdfarben. Das nimmt der Platte ein wenig von seiner Schwere, und die mit wenigen Strichen angedeutete Muskelkraft gibt zugleich auch Anlass zur Hoffnung, dass dieser Körper doch noch in der Lage sein wird, sich aus seiner Gruft zu befeien. Es spricht übrigens für die Lebenserfahrung und den Humor der Künstlerin, wenn sie einen auf einer vergleichbar wuchtigen Zinkplatte gelagerten Körper den „Heißer Stein" verpasst. Denn wer dächte dabei nicht auch an familiäre Essrituale, die inzwischen das klassische Fondue abgelöst haben oder an türkische Baderituale im Hamam. Und sagt man nicht auch von Menschen, die verhört oder irgendwie gemaßregelt werden, dass sie „gegrillt" werden? Es ist eben diese Offenheit, dieses Spiel mit Bildern und Vorstellungsbildern, aber vor allem auch der souveräne Umgang mit den armselig kunstschönen Materialien, die die Qualität dieser Werkreihe ausmachen. Dazu gehört auch das Hervorrufen von Gefühlen bis hin zu einer nahezu haptischen Seherfahrung. Denn das Auge kann sich an schmirgelpapierrauen Oberflächen reiben, kann abrutschen an den zäh fließenden, glänzenden Bitumenplatten oder kann sich in den Löchern der verbeulten Bleistreifen verfangen.
Es gibt Bilder, in die man sich körperlich einfühlen kann, sei es mit ähnlich erlebten Ängsten oder Daseinsfreuden. Denn es darf gewiss auch erlaubt sein, bei Figuren, die sich seltsam einigeln oder einrollen, nicht nur an Schutz suchende Wesen zu denken oder an bußfertige Demutsgesten, sondern eben auch an Purzelbäume vor lauter Glück!
Einer Gruppe von Bildern aus diesem Zyklus kommt aber eine besondere Bedeutung zu, weil sie ganz eindeutig religiös konnotiert sind, und bei denen es weniger um Einfühlen sondern eher um Mitfühlen geht. Es sind dies die auch genau so bezeichneten „Pietà"-Darstellungen. Pietà heißt übersetzt: „frommes Mitgefühl". Diese zumeist mittelalterlichen plastischen Darstellungen der Maria mit dem toten Christus wurden auch Vesperbilder genannt, also Bilder, die von dem Geschehen am Abend nach der Kreuzabnahme handeln. Und Vesper bezeichnete zudem den abendlichen Gottesdienst mit seiner Andacht. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich dabei verschiedene Pietà-Typen herausgebildet. Zunächst wurde der Leichnam von seiner Mutter in Sitzhaltung getragen, später dann in Ruhelage von ihr beweint. Es gibt auch Darstellungen, bei denen der Sohn gerade im Begriff ist, seiner Mutter zu entgleiten oder, nach dem er ihr entglitten ist, ihr dann zu Füßen liegt, und sie nur noch den Kopf in ihrem Schoß hält.
Gisela Happe liefert uns eine ganz eigene und auch eigenwillige Interpretation dieses Themas, denn sie spricht selbst dann noch von „Pietà", wenn einer der beiden Protagonisten fehlt. Und da sind wir wieder bei den Bildern, die aus Bildern kommen, und bei dem „Ausdruck tiefster Gedanken auf einfachste Art", wobei man hier auch von tiefsten Mit-Gefühlen reden kann. Denn sogar dann, wenn sie den leblosen Christuskörper isoliert zeigt, nur auf zwei bleierne Stützen prekär gelagert oder sogar nahezu frei im Raum schwebend, assoziieren wir sofort den Moment nach der Kreuzesabnahme. Wunderbar symbolkräftig, wie die Künstlerin hier mit Materie und Nichtmaterie spielt und mit Körper und Entkörperlichung. Ich kann nicht umhin, im zart-fahrigen Strich und in der sich auflösenden Körperauffassung zuweilen eine Nähe zu bestimmten Zeichnungen von Beuys zu erkennen, auch wenn beider kunstästhetische Haltung jeweils eine ganz andere ist. In einer andern Pietà-Darstellung sieht man die nur durch drei kleine Pinseltupfer als „Himmelskönigin" gekennzeichnete Maria, von diaphanen Pergaminstreifen blass verschattet im hinteren Bildgrund thronen, während der tote Sohn auf ihrem Schoß in der „realen" Bildebene davor liegt. Und anderswo abstrahiert die Künstlerin den Mutterschoß zu einer ovalen Öffnung, die zugleich auch als ein Verweis auf das offene Grab gelesen werden kann, oder vielleicht auf den Schoß, der ihn einst gebar?
All diese Interpretationen und Assoziationen zu diesen Vesperbildern legen die Vermutung nahe, dass Gisela Happe jene Bildgruppe nicht von ungefähr ihrem »Erfurter Zyklus« hinzugefügt hat. Denn hier wie dort geht es um Formen des Mitgefühls. Und durch alle Bilder weht etwas von dem Imperativ des Schlesischen Engels: „Mensch, werde wesentlich!"
Dr. Christiane Vielhaber, im Dezember 2015